Wir sind froh, auf den Kanaren zu sein. Hier haben wir erstmals eine Gewissheit, dass wir unsere Reise tatsächlich fortsetzen, dass es klappen könnte, dass wir uns wohlfühlen. Wir haben mit diversen Anschaffungen zugewartet, da stets eine Prise Unsicherheit verblieben ist, wie das mit den längeren Überfahrten gehen wird. Doch nun wissen wir, es geht – und zwar gut. Bisher haben wir es noch offengelassen, ob wir die Überquerung des Atlantiks zu viert antreten oder ob wir uns noch nach einem Matrosen umschauen wollen. Nach der letzten Überfahrt sind wir nun sicher, wir werden es ‚en famille‘ angehen.
All diese Emotionen und Erkenntnisse durchfluten uns neben einer gehörigen Müdigkeit an diesem ersten Tag auf Lanzarote. Wir sind glücklich hier zu sein, wir sind stolz auf uns und wir freuen uns auf das was kommt.
Eines haben wir in den letzten Monaten gelernt: Beginne umgehend mit allem, was zu tun ist. Denn die Wochen ziehen ins Land und mit Sicherheit dauert alles immer länger als gedacht. Und hier, dem letzten Stopp vor der Unerreichbarkeit, gibt es noch einmal richtig viel zu tun. Also rennen wir schon am nächsten Tag von Pontius zu Pilatus, bis schliesslich ganze sechs Sendungen von überall aus der Welt zu uns unterwegs sind. Noch sind wir optimistisch, wobei uns die Zollangelegenheiten auf den Kanaren von allen Seiten als höchst umständlich beschrieben worden sind. Ergibt sich eine winzige Unklarheit, pickt sich der spanische Zoll in Madrid das Paket heraus und lässt es dann gern für einige Wochen liegen. Und tatsächlich, das Päcklimanagement mausert sich praktisch zu einer Ganztagsbeschäftigung. Selten hat der Klingelton einer eingehenden Mail zu einer grösseren Menge ausgeschütteten Cholesterol geführt. Unzählige Male geben wir zusätzliche Informationen an, überzeugen, reichen Unterlagen nach. mit holprigem spanisch ziehen wir gegen die Laute, die gewehrsalven gleich aus dem telefon tönen, in die schlacht. Und noch hat es kein Ende.
Wir freuen uns sehr, nun endlich meine Mutter bei uns zu empfangen – dafür gleich für einige Wochen. Zwei Tage vor ihrer Ankunft klingelt plötzlich mein Telefon. Was wohl mein Onkel Marco zu sagen hat? Er hat die Reisepläne meiner Mutter vernommen und spürt die Reiselust in den Adern fliessen. Es ist eine wundervolle Überraschung, dass auch er zwei Tage später auf dem Flughafen in Arrecife steht.

Marco bleibt eine Woche und erobert die Kinderherzen im Sturm. Wir versuchen die Insel zu erkunden und machen Ausflüge in die nähere Umgebung. Leider ist die Mobilität stark begrenzt. Aufgrund von Covid wurde im vergangenen Jahr der grösste Teil der Mietautoflotte veräusserst und nun übersteigt die Nachfrage das Angebot bei weitem. Die Agenten winken schon von weitem ab, vielleicht einmal Ende November, wenn überhaupt… Der öffentliche Verkehr ist kaum ausgebaut – zum Glück gibt es Velos und haben wir Füsse.
Lanzarote ist ganz offensichtlich eine Vulkaninsel. Es ist karg, trocken und voller dunkler Lavasteine. Der letzte Ausbruch war 1824 – zum Glück. Wir befinden uns in Playa Blanca ganz im Südwesten der Insel. Unser Hausberg der Hacha Grande ist 562 Meter hoch und erlaubt eine fantastische Rundumsicht. Playa Blanca wurde für Touristen gemacht – mit Liebe und Sorgfalt. Die Hotelburgen sind nur wenige Etagen hoch und geschmackvoll errichtet worden.
Meiner Mutter beschert die Enge auf dem Schiff eine dicke, kleine Zehe, doch sind die Hörner einmal abgestossen, fühlt sie sich hier sehr wohl. Die Kinder geniessen es, sie stundenlang in Beschlag zu nehmen. Sie tauchen gemeinsam in fantasievolle Rollenspiele ein. «Der Dieb hat gerade dem Blinden die Brille gestohlen, ruft die Polizei» tönt es dann etwa aus dem Innern des Schiffs. Unzählige Stunden beugt sich meine Mutter über den Legotisch und findet irgendwann auch die kleinsten Teile. Wir geniessen den gemeinsamen Alltag und die vielen schönen Stunden zusammen.

Ich liege schon im Bett, als ich plötzlich Patricks Stimme vernehme «jetzt musst du kommen.» Er steht in der Küche, alles ist voller Blut und es wird immer mehr. Ein tiefer, fleischiger Schnitt ziert seinen Handballen. Es war nicht ein Hai und auch kein Sturm, seine Gelüste nach Corned Beef und der mörderische Verschluss der Dose wurden ihm zum Verhängnis. Die Dame bei Telmed bestätigt, was wir schon ahnten: Ohne Naht läuft nichts. Also besuchen wir unser geliebtes Centro de Salud nun auch einmal nachts. Elf Stiche werden es, ein Hai hätte es nicht besser gekonnt. Für einmal ist es ein Glück, dass unsere Pakete sowieso noch in den Zollschleifen hängen.
Apropos Centro de Salud. Mittlerweile waren wir elfmal dort. Geimpft sind wir nun vollständig, ein Zertifikat haben wir noch immer nicht. Die Spanier nehmen es mit den autonomen Regionen sehr genau!
Ich nutze die Gelegenheit – nun vorerst halt allein – eine Taucherin zu werden. Nach drei Tagen bekomme ich meine Lizenz als Open Water Diver. Es gehört etwas Wissen und einige Übung dazu, vor allem aber ist es eine Kopfsache. Schliesslich bin ich kein Fisch und es macht schon etwas nervös, wenn die Lunge nur noch durch einen kleinen Schlauch gefüllt werden kann. Zudem kann man der Situation in der Not nicht sofort entfliehen, sondern alles muss langsam und gemässigt angegangen werden.

Die Fische schwimmen direkt um mich herum, haben keine Angst, da sie uns (noch) nicht als Bedrohung einordnen. Sie schauen verwundert, verdutzt, interessiert. Sie sind einfach herrlich. Kurz frage ich mich, ob es wirklich nötig ist, dass wir (Menschen) uns diese Welt nun auch noch zu eigen machen. Es gefällt mir trotzdem… Es ist ein neues Universum, das sich vor mir öffnet. Ich begegne neuen Kreaturen und sehe Pflanzen, die ich noch niemals gesehen haben. Ich bestaune einen Oktopus, einen Engelhai, Moränen, Rochen und unzählige, schier unendliche Fischschwärme – traumgleich und unwirklich!